Rede von Winfried Wolf am 30. Juli 2012 auf der 133. Montagsdemo gegen Stuttgart 21[1]
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich darf hier erstmals in der Öffentlichkeit ein zerstörerisches Bahnprojekt vorstellen, das die folgenden Spezifika und Parameter hat:
- Der seit 80 Jahren bestehende Kopfbahnhof wird für den Fernverkehr aufgegeben.
- Durch die Stadt wird ein sieben Kilometer langer Tunnel für den Hochgeschwindigkeitsverkehr mit modernster Signaltechnik gebaut.
- Im Stadtzentrum wird eine gigantische Baugrube ausgehoben, in der der neue Haupt- und Durchgangsbahnhof versenkt und einbetoniert werden soll.
- Das gesamte Projekt soll offiziell 5 bis 6 Milliarden Euro kosten; die Kritiker gehen von 10 bis 12 Milliarden aus.
- Die Bauzeit soll zehn Jahre betragen; laut Kritikern werden es am Ende 12 bis 15 Jahre sein.
- Offizieller Baubeginn war bereits 2011; aktuell stocken jedoch die Arbeiten, teilweise wegen der Proteste, vor allem jedoch auch aus technischen Gründen: So gibt es erhebliche Probleme bei dem Grundwassermanagement.
- Der Ministerpräsident des Landes – ich bezeichne diesen mal verkürzt als „MP M“ – begründete das Projekt u.a. damit, dass es sich „nicht um ein singuläres Großprojekt“ handle. Vielmehr entstehe damit „ein für ganz Europa wichtiger Eisenbahnkorridor“.
Soweit die Beschreibung des Großprojekts.
Na, erraten, warum es geht? Nein, es geht nicht um den „Korridor Paris – Stuttgart – Bratislava“. „MP M“ steht auch nicht für den Ex-Ministerpräsidenten Mappus. Und es geht bei dem erwähnten Kopfbahnhof, der zu einem großen Teil aufgegeben werden soll, nicht um den Bonatzbau in Stuttgart. Obgleich die Architektur des fraglichen Bahnhofsbaus nicht ganz unähnlich derjenigen in Stuttgart ist.
Schließlich spreche ich jetzt auf der sechsten großen Demo gegen S21 in Stuttgart und ich sprach zusätzlich auf Dutzenden Veranstaltungen zu demselben Thema in Sälen oder Räumen; dabei bemühte ich mich immer, Neues zu präsentieren. Es wäre also echt fad, wenn ich mich heute wiederholen und Euch Altbekanntes vorsetzen würde.
„MP M“ steht für den Ministerpräsidenten Italiens, Mario Monti. Der Korridor meint die Strecke Milano-Bologna- Firenze-Roma-Napoli. Der in seiner Funktion weitgehend zurückgestutzte Kopfbahnhof ist die Stazione Santa Maria Novella. Kurz: Ich rede vom Projekt TAV Tunnel Firenze, der Untertunnelung der Stadt Florenz.
Richtig ist jedoch: Dieses Projekt hat verdammt viele Ähnlichkeiten mit Stuttgart 21; teilweise wirkt S21 wie eine Blaupause für den BahnhofsWAHN in Florenz.
Davon konnte ich mich im März und Mai dieses Jahres vor Ort in Florenz auf Veranstaltungen überzeugen. Die Freundinnen und Freunde dort, die gegen das Projekt kämpfen, sehen dieses als Teil vieler „grande opere inutili“, als Teil „großer unnützer Werke“. Anlass oder besser Ausgangspunkt für mein Engagement in Florenz ward dann im übrigen doch wieder ihr, war Stuttgart 21: Leute aus dem Val di Susa, die mehrmals in Stuttgart waren und die mit den florentinischen Freunden, die gegen den TAV Tunnel Firenze kämpfen, verbandelt sind, lernten mich in Stuttgart kennen. So kam diese Einladung und der fruchtbare Austausch zustande.
Es ist einfach wunderbar, dass hier wirklich gilt: Da wächst zusammen, was zusammengehört.
Als Resultat unserer Besuche vor Ort – das zweite Mal war Freund und Professor Heiner Monheim mit von der Partie – entstand ein Offener Brief an die toskanischen Behörden und ein Offener Brief an den italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti. Beide Offene Briefe – ich habe beide initiiert und weitgehend verfasst – werden von einem feinen Unterzeichnerkreis deutscher, österreichischer und italienischer Persönlichkeiten mitgetragen. Beide Texte gibt es in italienischer, englischer und deutscher Fassung.
Das Projekt in Florenz hat die folgenden Spezifika:
- Die Tunnelbauten sollen einen großen Teil der historischen Stadt untertunneln bzw. nah am Rande des historischen Zentrums entlangfahren. Damit wird perspektivisch die Standsicherheit von Gebäuden in Frage gestellt, die mehrere hundert Jahre alt sind.
- Die Baugrube soll500 Meterlang,500 Meterbreit und50 Metertief sein; es gibt bereits jetzt enorme Probleme bei der Frage, wohin der Aushub – es handelt sich um stark belastete Erde – verfrachtet werden soll.
- Der neue Bahnhof soll von einer Kuppel gekrönt werden, die von dem sogenannten Stararchitekten Sir Norman Foster gestaltet wird. Der Bahnhof wird schlicht Stazione Foster genannt.
- Bei den Gegnern des Projekts gibt es eine Art Gegenstück zu unserem Freund Egon Hopfenzitz, dem langjährigen Chef des Stuttgarter Hauptbahnhofs. In Florenz ist Tiziano Cardosi, der als Sprecher der TAV-Tunnel-No-Leute fungiert, und der früher auf dem florentinischen Bahnhof Campo di Marti „Capo di Stazione“, also Bahnhofsvorsteher, war.[2]
Vor rund neun Wochen, am 22. Mai, sprachen Heiner Monheim und ich – zusammen mit Freundinnen und Freunden aus Rom und Florenz – im historischen Palazzo Vecchio, dem heutigen Rathaus von Florenz. Viele von Euch kennen das Gebäude, weil ihr dort wart oder von Postkarten und Bildbänden: Es handelt sich um einen Rathausturm wie hier links neben mir auf dem Stuttgarter Rathausplatz… Allerdings ist derjenige in Florenz eineinhalb Mal so hoch, um ein Vielfaches älter und ausgesprochen Ehrfurcht erheischend.[3]
In meiner Rede in diesem beeindruckenden Gebäude stellte ich fest:
„Wenn man die wesentlichen Ursachen für die Fehlorientierung in der europaweiten Schienenpolitik untersucht, dann stößt man auf drei Elemente.“ Es handle sich um Elemente, die bei all diesen „grande opere inutili“ wiederkehren würden.
Es sind dies:
Erstens die Verkehrs- und Bahnpolitik der Europäischen Union, die auf Großprojekte, zusammengefasst in den TEN, und auf Hochgeschwindigkeitsverkehr, ausgerichtet ist. „TEN“ heißt offiziell „Transnational European Networks“; es könnte auch als „GDP (Great Destructive Projects)“ oder auch als „GOI (Grande Opere Inutili)“ abgekürzt werden.
Einen Hintergrund für diese Orientierung bildet dabei die persönliche Mobilität der Berufspolitiker, der Funktionäre und der Lobbyisten, die die europäische Landkarte gerne in natura an einem Tag überfliegen und durchsausen. Dieser doch sehr spezifischen und vor allem männerdominierten und von Macht durchtränkten Mobilität stelle ich nüchtern die folgenden Grunddaten gegenüber: 90 Prozent aller Eisenbahnfahrten finden im Nahverkehr im Segment bis zu 50 km Entfernung statt. Im reinen Schienenfernverkehr, also nur die Fahrten in IC-, EC- und ICE als Gesamtheit genommen und dabei den Nahverkehr komplett ausgeklammert, liegt die durchschnittliche Reiseweite je Fernverkehrs-Bahnfahrt bei 250 km. Das heißt jedoch: Bei der Masse des Eisenbahnverkehrs, ja selbst beim durchschnittlichen Fernverkehr auf Schienen, sind Hochgeschwindigkeit und Minutenschinderei schlicht und einfach strukturell bedeutungslos. Da kommt es auf ganz andere Qualitäten an: auf Pünktlichkeit, auf Sauberkeit, auf die positive Antwort auf die Frage: „Krieg ich einen Sitzplatz?“; auf gute Anschlüsse und nicht zuletzt auch auf akzeptable Tarife.
Den zweiten Hintergund für „il grande opere inutili“ bilden die neoliberale Politik des Abbaus des öffentlichen Sektors im allgemeinen und die Privatisierung der Eisenbahnen im besonderen. Diese Zielsetzungen haben eine höchst praktische Bedeutung: Öffentliches Eigentum, vor allem öffentliches Eigentum an Grund und Boden, das meist in vielen Jahrzehnten und im Fall der Eisenbahnen in 180 Jahren angesammelt wurde, wird enteignet und privatisiert.
Bei den Eisenbahnen spielt dabei die EU-Anforderung nach einer Trennung von Infrastruktur und Betrieb eine wichtige Rolle. Die Infrastruktur darf gerne öffentlich bleiben; dann bleiben bei der öffentlichen Hand auch die Kredite hängen, mit denen die Infrastrukturprojekt, einschließlich „il grande opere inutili“, finanziert wurden. Dagegen soll der Betrieb von Eisenbahnen auf diesem öffentlich finanzierten Netz durch private Gesellschaften erfolgen.
Diese Trennung ist in Italien mit einer Infrastrukturgeselschaft, der rete ferroviaria, mit einer noch staatlichen Betreibergesellschaft, der Trenitalia, und mit einer neuen Betreibergesellschaft, auf die ich noch zu sprechen komme, im Bereich des Fernverkehrs deutlich weiter fortgeschritten als in Deutschland. Bei der Deutschen Bahn AG sind DB Netz (= Trassen), DB Station und Service (= Bahnhöfe) und die DB-Gesellschaft für den gesamten Betrieb, DB ML, noch stärker miteinander verbunden; im Schienenpersonenfernverkehr verfügt die DB weiterhin über ein 99-Prozent- Monopol.[4]
Dabei sind bei den Bahnen längst bahnfremde und Eisenbahn-feindliche Interessen im Spiel. Bei der Deutschen Bahn AG ist ja das Bahnchef-Trio infernale sattsam bekannt: Ich meine die Herrn Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube: Alle drei waren S21-Einpeitscher, alle drei entstammen der Daimler-Airbus-Kaderschmiede. Im jüngst neu debattierten Fall Mappus-Notheis ist im übrigen nicht nur spannend, wie der Morgan Stanley-Deutschland-Boss Notheis die Marionette Mappus via Mails bis in seine Wortwahl auf Pressekonferenzen fernsteuerte. Spannend und in der Öffentlichkeit bisher nicht thematisiert ist auch, dass Notheis und Morgan Stanley von Mehdorn und dem damaligen Bundesverkehrsminiuster Wolfgang Tiefensee damit beauftragt waren, die Deutsche Bahn AG an die Börse zu bringen.[5]
Und wie sieht es da in Italien aus? Einer der Betreiber der Hochgeschwindigkeitszüge auf der Strecke Milano – Firenze – Roma – Napoli ist die bereits erwähnte Staatsbahn Trenitalia. Es gibt jedoch bereits einen zweiten mächtigen Betreiber, die Gesellschaft Novo Trasporti Viaggiatori (NTV), deren Vorsitzender ein gewisser Luca di Montezemolo ist. Dieser wiederum ist Ferrari-Boss. Er war lange Zeit Chef des Industriellenverbands und maßgeblicher Manager bei Fiat. Das heißt also: Bei dem Projekt der genannten Hochgeschwindigkeitsstrecke und damit auch bei dem Projekt TAV Tunnel Firenze spielen Autoindustrie-Interessen eine maßgebliche Rolle.
Und so wie es in Deutschland bei der DB AG beziehungsweise so wie es in Italien mit der Gesellschaft NTV aussieht, so sieht es auf weltweiter Ebene aus. Ich kaufte vor ein paar Tagen die neue Ausgabe des US-Wirtschaftsblatts „Fortune“.[6] Ein solcher Kauf – beispielsweise am Kiosk im Stuttgarter Hauptbahnhof, ein Mal im Jahr, für 5 Euro und dann meist Ende Juli, Anfang August, ist meist lohnend. Denn in diesen Heften veröffentlicht „Fortune“ die detaillierten Statistiken des Vorjahrs, jetzt also für das Jahr 2011, über die „Global 500“, über die größten Unternehmen der Welt.
Wenn man hier das erste dreckige Dutzend in der Hitliste durchdekliniert, dann stellt sich heraus: In dieser Zwölfergruppe befinden sich neun Ölkonzerne, ein Autokonzern, ein Energieversorger und ein einziger Konzern, der nicht zur Gruppe Öl-Auto-Energie zählt. Im einzelnen: Nummer eins und größter Konzern (nach dem Umsatz) war 2011 Royal Dutch Shell – gleich ÖL; Nummer 2: Exxon Mobil – gleich ÖL; Platz 3 der Ausreißer: Wal Mart Stores – Einzelhandel; Nummer 4: BP – ÖL; Nummer 5 und 6: Sinopec Group und China National Petroleum – zweimal ÖL; Nummer 7: Stategrid, ein chinesischer Energieversorger; Nummer 8 und 9: Chevron und Conocophilips – zwei weitere US-Ölkonzerne; Nummer 10: Toyota Motors – AUTO; Nummer 11: Total – ein Ölkonzern aus Frankreich und Nummer 12 Volkswagen.[7]
Den dritten Hintergrund bei diesen grande opere inutili bildet die Veränderung in der Grundstruktur des Kapitalismus seit den 1990er Jahren. Das wachsende Gewicht des Finanzsektors und seit der Bankenkrise 2008 die Dominanz der Finanzinstitute, also der Banken, der Hedge Fonds, der Private Equity-Gesellschaften. Dazu hat Werner Rügemer soeben ein spannendes Buch veröffentlicht.[8]
Das Hauptgeschäft der Finanzinstitute ist die Kreditvergabe. Besonders große und durchaus auch riskante Kredite bringen am meisten Knete – zumal dann, wenn es staatliche Garantien auf Rückzahlung gibt. Weil dann klar ist, dass Zins und Tilgung gegebenenfalls aus der Bevölkerung via Sparprogramme herausgepresst werden.
Das spielt eine große Rolle bei der griechischen Krise und Tragödie. Die grande opere inutili in diesem Land waren die Olympischen Spiele 2004, ein größerer Teil der U-Bahn in Athen[9], die gigantischer Brücke über den Golf von Korinth und jede Menge Rüstungskäufe. Die Folgen: In Griechenland stehen ein halbes Dutzend ungenutzte Großstadien und andere Sportstätten in der Landschaft herum. Teile der U-Bahn wurden nicht komplett fertiggestellt und harren seit vier Jahren der Inbetriebnahme. Die Brücke über den Golf von Korinth wird kaum genutzt, weil eine enorm hohe Mautgebühr verlangt wird. Griechenland verfügt über eine der größten Panzerarmeen Europas; allein 700 Leo-II-Panzer rosten vor sich hin.
Das Thema kredit-finanzierte Großprojekte spielt auch eine große Rolle in der neuen Krise in Spanien. Die „grande opere inutile“ in diesem Land sind zwei Millionen Häuser und Appartements, die im vergangenen Jahrzehnt hochgezogen wurden, und mehrere Hochgeschwindigkeitsstrecken mit 2500 km Gesamtlänge. Die Folgen sind: Eine Million Häuser stehen komplett leer. Eigentlich könnte man diese dem Millionenheer nordafrikanischer Tagelöhner, die vor allem im Bausektor und in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, zur Verfügung stellen. Dann wären diese Häuser wenigstens bewohnt und würden nicht, wie derzeit, zunehmend verfallen. Doch das verstößt natürlich gegen das hehre Prinzip von Privateigentum. Vor allem flüchten derzeit die ehemaligen Flüchtlinge aus Nordafrika ihrerseits aus dem ehemals gelobten Land Spanien mit seiner 20-Prozent-Erwebslosenquote und 50 Prozent-Jugendarbeitslosigkeit.[10] In Bau befindliche oder beschlossene Hochgeschwindigkeitsstrecken werden ersatzlos gestrichen, so die Verbindungen Madrid – Lissabon und die Verbindung Vigo – Porto. Selbst eine seit einigen Jahren in Betrieb befindliche, neue Hochgeschwindigkeitsstrecke, diejenige zwischen Toledo – Cuence – Albacete wurde aufgegeben. Dabei stellt man so nebenbei fest, dass in jedem Zug nur zwei bis drei Dutzend Leute saßen.
In Italien gibt es neben dem genannten TAV Tunnel in Florenz als festen Bestandteil der grande opere inutili vor allem das Hochgeschwindigkeitsprojekt Turin – Lyon mit dem strategisch entscheidenden und ähnlich lang wie S21 bekämpften Teilstück im Val di Susa. Italien steht am Rande einer Krise, wie sie Griechenland seit drei Jahren und wie sie Spanien seit einem Jahr erlebt. Dabei wird die Krise in Italien von besonderer Bedeutung sein: Einmal weil Italien die drittgrößte Ökonomie in der EU ist – nochmals deutlich schwergewichtiger wie die spanische Ökonomie, die ja bereits die EU-Rettungsschirme latent überfordert. Zum anderen weil Italien bereits seit mehr als einem Jahrzehnt eine Staatsschuld hat, die höher als das Bruttoinlandsprodukts ist (und zwischen 105 und 115 % des BIP pendelt).
Spanien hatte am Beginn der Krise, im Jahr 2008, eine Staatsschuld, die nur 40 Prozent des BIP entsprach. Noch 2011 hatte das Land eine Staatsschuld, die nur 70 Prozent des BIP entsprach. Dennoch rückte Spanien ins Zentrum der internationalen Spekulation und erlebt inzwischen eine katastrophale Krise. Das wird in Italien ziemlich sicher in ähnlicher Weise erfolgen.
Wenn in dieser Situation in Italien die Politik der Berlusconi-Ära mit den grande opere inutile fortgesetzt wird, wenn auf diese Weise die Staatsschuld weiter steigt, wenn irgendwann die Troika in Rom aufschlägt und dann die Schulden, die bei der Staatsbahn FS und die bei der Infrastrukturgesellschaft rete ferroviaria lagern zur offiziell ausgewiesenen Staatsschuld hinzuaddiert werden …, dann wird das die Krise beschleunigen. Monti & Co. vollführen hier einen Tanz auf dem Vulkan.
Das war auch der Grund, weswegen wir den zweiten Offenen Brief direkt an Mario Monti richteten und auf diesen fatalen Zusammenhang zwischen den Projekten TAV Tunnel Firenze und Val di Susa auf der einen Seite und der sich abzeichnenden italienischen Finanzkrise auf der anderen Seite verwiesen.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
und Deutschland… ist hier wirklich alles anders? Und Baden-Württemberg, dieses reiche Bundesland – können wir tatsächlich von dieser europäischen Krise verschont bleiben?
Ehrlich gesagt: Ich glaube, das sind Trugschlüsse. Und ich erinnere daran:
- Spanien und Italien hatten noch vor drei Jahren das zweitbeste Rating, das die Agenturen Moodys, Standard & Poors und Fitch zu vergeben haben. Das heißt: Diese Länder galten als solide, als „investment grade“: Staatsanleihen und andere Wertpapiere wurden Gott & der Welt zum Kauf empfohlen.
- Irland hatte noch vor drei Jahren ein „triple A“-Rating („AAA“). Das ist die beste Rating-Note, die die Agenturen vergeben können. Das Land wurde lange Zeit als „keltischer Tiger“ bezeichnet.[11]
Inzwischen haben die Wertpapiere von Irland und Spanien Ramschniveau; diejenigen von Italien gelten als unsicher, als riskant – mit „Ausblick: negativ“.
Deutschland hat einen aufgehäuften Berg öffentlicher Schulden, der bereits 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Vor Beginn der Krise, 2008, lag der Schuldenstand bei 66 Prozent. Das Maximum dessen, was der Maastricht-Vertrag aus dem Jahr 1992 erlaubt, sind 60 Prozent. Selbst der EU-Musterknabe überzieht also kräftig.
Die Deutsche Bahn AG startete Anfang 1994 mit Null Schulden; die Altschulden von Bundesbahn und Reichsbahn hatte damals der Staat übernommen. Inzwischen ist die DB AG bereits mit 18 Milliarden Euro verschuldet. Damit häufte die Bahn in 19 Jahren einen Schuldenberg auf, der demjenigen entspricht, den die Deutsche Bundesbahn im Zeitraum 1949 bis 1989, also in knapp vierzig Jahren akkumuliert hatte.
Das sind bereits erhebliche Finanz-Hypotheken. Diese werden durch die Mithaftung Deutschlands für die diversen Rettungsschirme massiv gesteigert werden. Dabei ist Deutschland inzwischen die entscheidende Garantiemacht für diese Rettungsschirme (die sich dann, wenn Italien von der Krise erfasst werden wird, als Rettungs-Knirpse erweisen werden).
Vor allem droht Deutschland eine neue Krise der Realwirtschaft. Die deutsche Ökonomie ist enorm exportabhängig, doppelt so stark vom Welthandel abhängig wie die französische oder die italienische. Der gesamte Euroraum befindet sich seit Ende2011 in einer neuen realwirtschaftlichen Krise. Die Sparprogramme, die in Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Spanien exekutiert werden, tragen dazu bei: Wir erleben derzeit einen sich selbst verstärkenden Abschwung. Im Euroraum haben wir also bereits den berüchtigten „double dip“ – auf die Krise2008-2009 folgt – unterbrochen von einer bescheidenen Erholungsphase 2010/2011 – eine neue Krise. Ein Einbruch der Konjunktur zeichnet sich auch in den USA für Herbst 2012 ab. Und in China verlangsamen sich seit Mitte 2012 zumindest die Wachstumsraten. Das sind deutlich kritische Rahmenbedingungen.
Bei Beginn der neuen Krise, 2007/2008, hatten die Staaten noch erhebliche finanzielle Spielräume. Diese nutzten sie, um mit mehr als einer Billion US-Dollar die Banken in Nordamerika und Europa zu stützen und gleichzeitig das eine und andere Konjunkturprogramm aufzulegen. Stichwort: Abwrackprämien. Die Banken nahmen die großzügige Steuergeld-Schenkung dankend an und sahen in dieser einen Hinweis dafür, dass sie weitermachen dürften wie bisher.
Die Folge:
Diese drehen erneut ihre Spekulations-Riesenräder – mit nicht berechenbaren Folgen für die Weltwirtschaft. Wenn nun tatsächlich eine neue Krise – im Finanzsektor, an den Börsen und vor allem auch in der sogenannten Realwirtschaft – kommt, dann gibt es zumindest aus kapitalistischer Sicht keinen Spielraum mehr für Konjunkturprogramme, nicht mehr die Möglichkeit für ein keynesianisches Gegensteuern.[12]
Bereits vor dem Hintergrund dieser sich verallgemeinernden Krise ist deutlich. Die grande opere inutili stehen in diametralem Widerspruch zu diesen Krisentendenzen. Der Druck, sie zu stoppen, wird mit der Krise immer größer.
Wenn ich die jüngsten Meldungen richtig interpretiere, dann will auch die neue französische Regierung unter Francois Hollande die TGV-Hochgeschwindigkeitsprojekte stoppen – damit wäre auch die Strecke Lyon bis zur italienischen Grenze in Frage gestellt. Und die Krise, die ansonsten katastrophale soziale Folgen hat, würde in diesem Fall Gutes bewirken und unsere Freundinnen und Freunde im Val di Susa objektiv unterstützen.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
wir haben in Stuttgart eine gewaltige und für unser Land und für Europa vorbildliche Bewegung erlebt. Und wir erleben dies heute noch und wieder, wie die heutige 133. Montagsdemo zeigt.
Es gab große Erfolge. Es gab einen ersten brutalen Nackenschlag – direkt nach der Geißler-Schlichtung und durch den unverschämten Schlichterspruch von Heiner, dem Scheinheiligen. Und es gab eine herbe Niederlage – mit dem Volksentscheid am27. November 2011. Hier handelte es sich um einen Sieg des sehr gut koordinierten S21-Lobby aus Bau-, Banken- und Autokapital, angeführt von der Bahnspitze, die das Geschäft der verkehrspolitischen Konkurrenz betreibt.
Dieser Erfolg der Gegenseite konnte auch deshalb erreicht werden, weil unsere Seite durch die Politik der grün geführten Regierung erheblich geschwächt war, weil es bei Zehntausenden der S21-Gegnerinnen und Gegner Irritationen und weil es bei Hunderttausenden, die die Grünen und die SPD gewählt hatten, bittere Enttäuschung gab.
Doch all das ändert nichts an der Richtigkeit unserer Argumente. Gerade nach dem 27. November gab es Dutzende neue Bestätigungen für die S21-Kritik.[13]
Ich bin mir absolut sicher: Stuttgart 21 kommt nicht zustande. Und ich weiß: Viele in der Regierung in Berlin und die Top-Leute bei der Bahn wissen auch, dass das Projekt scheitern wird. Denen ging und geht es vor allem darum, zu zeigen: Eine demokratische Bewegung wie diejenige gegen Stuttgart 21 darf keinen Erfolg haben. Das könnte schreckliche Schule machen.
Daher, so die Denke dort, muss dieser Bewegung das Genick gebrochen werden. Die Kanzlerin Angela Merkel hat das im Vorfeld der Baden-Württemberg-Wahl in hochpolitischer Weise auf den Punkt gebracht, als sie öffentlich sagte: „Wenn wir Stuttgart 21 nicht durchsetzen, können wir von Griechenland nicht verlangen, dass gespart wird.“
So dumm das klingt, so klug ist das; Frau Merkel meint: Wir müssen klarmachen, wo der Bartl den Moscht holt.
Vor diesem Hintergrund wäre es höchst unschön, wenn die S-21-Betreiber einmal sagen könnten: Das Projekt scheiterte am Ende leider an den Finanzen… Oder: Es scheiterte an nicht vorhersehbaren und nicht mehr zu bewältigenden technischen Problemen (Grundwasser, Mineralwasserquellen, Gipskeuper usw.)…
Finanzen und Technik werden am Ende eine wichtige Rolle spielen. Aber es gilt auch: Das Projekt Stuttgart 21 wird auch an uns, wird am Widerstand gegen Stuttgart 21 scheitern. Das demonstriert diese 133. Montagsdemo, auf der wieder bis zu 3000 Leute teilnehmen – nach Beginn der Ferienzeit und mit einem erkennbaren gewachsenen Zulauf im Vergleich zu einigen vorausgegangenen Montagsdemos.
Es ist wichtig, diesen Widerstand am Leben zu halten und weiter neu zu beleben. Es ist gut, wenn mal – wie jüngst durch Walter Sittler und die Parkschützer – das eine und andere neue Bäumchen der Hoffnung gepflanzt wird. Vor allem aber ist es wichtig, dass wir weiter auf die Straße gehen. Dass es diese Kontinuität der Bewegung gibt. Dass dabei unsere Argumente immer wieder aufgefrischt und konkretisiert werden.
Liebe Freundinnen, liebe Freund,
Wir werden weiter aufrecht gehen. Wir werden oben bleiben. Wir werden uns engagieren – für große nützliche Projekte: für unsere Kinder, für die Umwelt, für das Klima, für unsere Stadt, für unseren Bahnhof…
Ich bedanke mich.
[1] Die Rede wurde nachträglich „verschriftet“. Ich fügte dabei wenige Passagen, die ich aus Zeitgründen in der eigentlichen Rede wegließ, ein. Vor allem dokumentierte ich einige Fakten genauer, u.a. durch Anmerkungen.
[2] Den Verweis auf Hopfenzitz-Cardosi habe ich in Stuttgart vergessen vorzutragen; dies habe ich bei meinen Krikelkrakel-Notizen, die Grundlage meiner Rede waren, übersehen. Das ist verdammt schade, weil ich diese Parallele bezeichnend finde. Die Stärke unseres Widerstands gegen S21 speist sich in erheblichem Maß daraus, dass wir Menschen aus dem eher bürgerlichen Lager, vor allem auch Fachleute aus dem Bahnbereich, aus dem Ingenieursbereich usw., überzeugen und für unser Engagement gewinnen konnten. Eine revolutionäre (die bestehenden Verhältnisse umwälzende) Position deckt sich heute oft mit einer konservativen Position – dann, wenn „konservativ“ das meint, was es im Lateinischen heißt: erhalten, bewahren, beschützen.
[3] Hier habe ich mich in meiner Rede gründlich verschätzt und von „zehn Mal höher“ gesprochen. Hier also die exakten Daten: Der Rathausturm in Stuttgart ist60,5 m hoch; er wurde 1956 fertiggestellt. Der Turm des Palazzo Vecchio in Florenz ist94 m hoch; er wurde im Jahr 1314 vollendet.
[4] Bei der Deutschen Bahn AG gibt es im Infrastrukturbereich eine Netz AG, eine AG Station und Service (= Bahnhöfe) und eine DB Energie GmbH. Im Fall einer Bahnprivatisierung dürfte es beim aktuellen Stand (nach dem Scheitern der Bahnprivatisierung als integriertem Konzern, wie dies von Hartmut Mehdorn und Wolfgang Tiefensee zwischen 2006und 2007 betrieben wurde) , vor allem um eine Privatisierung des Bahnbetriebs gehen. Dafür gibt es längst weit reichende Vorbereitungen. Bereits Anfang 2008 wurde die DB ML als neue Subholding (unter dem Dach der DB AG) gebildet. Zur DB ML gehören der Schienenpersonennahverkehr (DB Regio), der Personenfernverkehr auf Schienen (DB Fernverkehr), der Schienengüterverkehr (Railion) und die gesamte weltweite Logistik und sonstige Trabsportaktivitäten (wie sie bei der DB-Tochter Schenker AG zusammengefasst sind).
[5] Das Projekt eines Bahnbörsengang, das sich die damalige Große Koalition bereits im Koalitionsvertrag von 2005 setzte, wurde vor allem 2006 bis Ende 2007 intensiv betrieben. Es scheiterte am breiten Widerstand vieler Initiativen, in starkem Maß vertreten durch das Bündnis Bahn für Alle (www.bahn-fuer-alle.de), an Entscheidungen des SPD-Parteitags im Oktober 2007 im Hamburg und am Ende auch an der Finanzkrise im Sommer 2008.
[6] Fortune, Nr. 10/2012;6. August 2012 (das Datum wird immer vordatiert mit „“display untilAugust 6 2012…, „Global 500 – The world´s largest corporations“.
[7] Die Liste führt auch die Banken auf. Allerdings sind nur Unternehmen gelistet, die ihre Bilanzen veröffentlichen bzw. die aufgrund ihrer Unternehmensform gezwungen sind, ihre Zahlenwerke publik zu machen. Nicht gelistet sind z.B. der größte Ölkonzern der Welt, Saudi Aramco, und andere staatliche Ölkonzerne aus Ländern wie Iran, Irak und Russland. Unter Berücksichtigung dieser Unternehmen ist die Ölabhängigkeit der Weltwirtschaft nochmals größer. Auch nicht gelistet ist die neue Welt der Schattenbanken, der Hedge Fonds, die viele Banken und viele Konzerne der Realwirtschaft heute beherrschen. Dazu siehe den folgenden „dritten Hintergrund“ und hier den Verweis auf Werner Rügemers Studie.
[8] Werner Rügemer, Ratingagenturen, Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart, Bielefeld 2012, Transcript Verlag Bielefeld, 2012.
[9] Ich habe an dieser Stelle in meiner Rede vor Ort gesagt, dass die U-Bahn in Athen als solches zu diesen großen unnützen Werken zählen würde und dass sie als Ganzes nie in Betrieb genommen wurde. Eine Demo-Teilnehmerin (deren Tochter in Athen lebt) verwies mich nach meiner Rede auf meinen Irrtum. Ich habe nachrecherchiert; es verhält sich wie folgt: Tatsächlich geht es um zwei neue,16 km lange U-Bahn-Linien (Linien 2 und 3) mit sieben U-Bahnhöfen, die bis 2008 neu gebaut, aber nie in Betrieb genommen wurden. Der Grund ist der Siemens-Korruptionsskandal: Als Siemens wegen massiver Schmiergeld-Zahlungen an „Entscheidungsträger“ in Griechenland gerichtlich belangt wurde, stellte der Konzern die Arbeiten an diesen U-Bahn-Linien ein; es fehlt die Signaltechnik. Inzwischen (bis Juli 2012) hat die Athener Regierung unter dem Druck (oder auch: unter dem Diktat) der Troika mit Siemens Frieden geschlossen und auf die bisher erhobenen Forderungen nach massiven Entschädigungszahlungen seitens Siemens verzichtet. Siemens will nun die fehlenden Anlagen installieren… was mit EU-Geldern, die Teil der „Griechenland-Hilfe“ der EU sind, finanziert werden wird.
[10] Menschen aus Argentinien, die im Gefolge der Krise imLa Plata-Staat vor gut einem Jahrzehnt nach Spanien kamen, wandern jetzt wieder nach Argentinien zurück, wo die Wirtschaft relativ gut dasteht – nachdem die Dollarbindung des Peso aufgegeben und die alte Währung Peso deutlich abgewertet wurde – genau das, was die Euro-Peripherie-Länder Griechenland, Portugal, Spanien Irland und Italien seit der Euro-Einführung nicht mehr machen können. In Portugal ist es noch grotesker: Mehrere zehntausend Portugiesinnen und Portugiesen sind inzwischen in die alten Kolonien Portugals, nach Guinea, Mozambique und Angola ausgewandert, weil die Wirtschaft dort teilweise besser als in Portugal dasteht.
[11] Die Bezeichnung „Tigerstaat“ bekam allerdings 1997/98 „a G´schmäckle“, weil in diesen Jahren die asiatischen „Tigerstaaten“ (u.a. Thailand, Philippinen, Südkorea) von einer extremen Finanzkrise erfasst wurden. Glücklicherweise hatten diese damals keine einheitliche Währung. Die nationalen Währungen wurden massiv abgewertet.
[12] Natürlich gibt es in Wirklichkeit weiterhin erhebliche Spielräume, wie diese Verschuldung auf sozial vertretbare Weise reduziert oder gar auf Null gebracht werden könnte. Das bekannte Geldvermögen der rund 700.000 deutschen Dollar-Millionäre – das sind Leute, mit mehr als einer Million US-Dollar Geldvermögen (den Immobilienbesitz noch nicht mit einbezogen!) liegt bei rund 3,9 Billionen US-Dollar und ist fast doppelt so hoch wie alle öffentlichen Schulden Deutschlands (die 2,3 Billionen US-Dollar betragen). Dasselbe gilt für die internationale Ebene: Die bekannten Geldvermögen der 12 Millionen Dollar-Millionäre, die es auf der Welt gibt, betragen 98 Billionen US-Dollar; sie sind ebenfalls gut doppelt so groß wie alle öffentlichen Schulden, die es in der Welt gibt (41 Billionen US-Dollar). Warum also nicht ein klitzekleines einziges Mal die Vermögen all dieser Millionäre mit 50 Prozent besteuern? Dann wären alle öffentlichen Schulden getilgt … und diese Herren (und die paar wenigen Damen in dieser Gruppe) wären dann eben anstelle von Euro- und Dollar-Millionären nur noch DM-Millionäre. Das mag wie eine etwas naive Rechnung erscheinen; sie drückt aber aus, dass das fatalistische Gerede von der „Staatenkrise“ einfach Unsinn bzw. allein Ergebnis einer krass ungerechten Verteilung ist. Im übrigen gibt es natürlich Dutzende andere Möglichkeiten, die Staatsschulden durch Besteuern der Reichen und vor allem auch: durch eine Streichung aller „grande opere inutile“ schlagartig zu reduzieren. Ausführlich dazu: Winfried Wolf „Es gibt keine Schuldenkrise. Es gibt eine Krise der Verteilung“. In: Lunapark21, Heft 16, Winter 2011/2012, S.2f.
[13] Das betrifft vor allem die Tatsache, dass der S21-Durchgangsbahnhof deutlich weniger Kapazitäten hat als der bestehende Kopfbahnhof. Es handelt sich bei S21 also um das sündhaft teure Projekt eines Kapazitätsabbaus, was nach Allgemeinen Eisenbahn-Gesetz (AEG), § 15, genehmigt werden müsste aber nie genehmigt wurde.